7 Jul 2023

Sexualität und Normen

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In diesem Blogbeitrag beziehe ich mich auf eine Themenvermischung,  die mir kürzlich aufgefallen ist.

  • Aufklärung von Kindern & Jugendlichen
  • kindliche Sexualität
  • sexualisierte Gewalt
  • pornografische Darstellung von Kindesmißhandlung
  • pädosexuelle Neigung
  • vermuteter "Sittenverfall"
  • sexuelle Neigungen/Identitäten
  • die Diskussion um das Gendern
  • Normalität & Anderssein

Diese Themenkreise werden mitunter alle vermischt, um ... ja wozu eigentlich? Dazu müsst man die Verursacherinnen befragen. Auf mich wirkt es, wie wenn gesellschaftlich ein neues (eigentlich uraltes) Thema aufpoppt. Überall ist Sexualität enthalten. Die Themen an sich könnten ganz emotionslos und auf seriöser wissenschaftlicher Basis geklärt werden ohne alles durcheinander zu bringen. Handelt es sich um die Idee von "sex sells"? Dann würden die Themen nur dazu verwendet, um selbst von der Bekanntheit zu profitieren. Somit ging es nicht um Diskussion oder gar Lösungssuche.

Als Psychotherapeut habe ich dazu eine weitere Idee, nämlich daß Sexualität & sexuelle Regungen und Themen ihren Platz in der dunklen (weniger sichtbaren) Seite der Psyche haben. Daher erregen sie Ängste und werden als potentielle Gefahr gefühlt. Ist die Themenwahl dann nur ein Ventil für Ängste? Diese Gedanken lasse ich Ihnen als LeserInnen gleich anfangs zum Nachdenken.

Aufklärung von Kindern & Jugendlichen

"Klären wir sie nicht auf, dann tun es andere", wie z.B. der Informationszugang über das Internet. Aufklären können wir (als Eltern, LehrerInnen) wenn wir selbst gut aufgeklärt sind. Das bedeutet nicht nur Sachwissen über genitale/körperbezogene/medizinische Bereiche - sondern vor allem der gute Umgang mit Grenzen & Bedürfnissen sowie die Qualität von Beziehung und Liebe. Es gibt daher viele gute Gründe, mit unseren Kindern & Jugendlichen bezüglich Sexualität und Co im Gespräch zu bleiben. Denn dieses große Thema ist so wie die Gesellschaft in steter Veränderung.  Auch wenn sich konservative Menschen dies anders wünschen würden. Es handelt sich damit ebenso wenig um einen (Sitten-)Verfall, wie es die Einführung der Eisenbahn oder des Passagierflug waren. Leben bedeutet Entwicklung. Der erweiterte und breitere Zugang zu Informationen fordert uns heraus. Vielleicht gibts auch die Idee, die Information unserer Kinder exklusiv selbst (als Eltern) zu übernehmen - in diesem Fall könnte es um ein Mißtrauen gegenüber "anderen" AufklärerInnen gehen. Solchen, die Sexualität anders denken (und fühlen) als nur zur Fortpflanzung oder sich in sehr eingeengten patriarchalen Vorstellungen aufhalten, leider oft in Ausgrenzung anders Empfindender.

Kindliche Sexualität

"Sexualität spielt für uns bereits vor der Geburt eine wichtige Rolle ." Der Tastsinn führt dazu, dass bereits Babies ihre Körper erkunden und dabei Zonen entdecken, die sich anders/interessanter/angenehmer als andere anführen. Weibliche wie auch männliche Säuglinge zeigen im Mutterbauch bereits Zeichen der Erregung. Die wird natürlich noch nicht gleich empfunden wie im Erwachsenenalter. Dazu fehlt noch entsprechende Sprache. Jedoch Neugier und Entwicklungsdrang treiben diesen Vorgang an. Das Kind entwickelt immer höhere Fähigkeiten zur Differenzierung. (was tut gut oder was noch besser) Kindliche Sexualität IST einfach DA, sie wird nicht durch Aufklärung "herbeigeworben" oder gar indoktriniert. Sie EXISTIERT aus sich selbst heraus. So wie das Bedürfnis nach Bewegung und Erkundung der Welt. Wenn aber Eltern nicht entsprechend aufgeklärt sind, oder darüber besorgt sind, kann diese naturgemäße Entwicklung massiv gestört werden. Siehe alle früheren Dramen rund um Selbstbefriedigungsverbote und Horrorgeschichten. - siehe auch Daniel G.M. Schreber. Die "Normalität" früherer Zeiten sah es vor, sexuelle Regungen bei Kindern drakonisch zu bestrafen (oder sie auszunutzen). Mediziner, Pfarrer, LehrerInnen bemühten sich, z.B. Selbstbefriedigung zu verhindern, zu bestrafen oder Legenden darüber zu verbreiten, was damit drohe. Diese Norm hat sich zum Glück bereits weitgehend geändert.

Sexualisierte Gewalt

Sexualisierte Gewalt ist primär als Gewalt bzw. Machtmißbrauch und weniger als eine Triebsache zu betrachten. Dazu wird meist der Körper als Gewaltinstrument eingesetzt. Dieses Thema ist sehr groß und kann hier nur angedeutet werden. Aktueller Wissensstand ist es, dass sexuelle Gewalt sehr viel mit struktureller Gewalt und insbesondere mit Machtverhältnissen zu tun hat. Triebhaftigkeit, wie früher sehr verbreitet dargestellt oder "verführerisches Aussehen & Verhalten von Opfern" (siehe Diskussion über Bekleidungsvorschriften in einer Salzburger Schule Juni 2023) haben damit wenig zu tun. Daher ist auch die mancherorts geforderte "chemische Kastration" kein geeignetes Mittel. Diese wird oft nur als "simple Lösung" von vermeintlichen (Er-)lösern gefordert, um sich mit den tieferen Ursachen nicht weiter aufzuhalten. Sie dämmt vielleicht den Trieb, erreicht jedoch nicht die Neigung zum Machtmißbrauch. Das vermeintliche Recht des Stärkeren, sich am Schwächeren zu "bedienen".

Pornografische Darstellung von Kindesmißhandlung

Die Macht über das Opfer tritt in Gestalt der Macht über dessen/deren Bild auf. Ein weiterer Aspekt von sexueller Gewalt. Der Handel mit und der Tausch von Bildern, die Reduktion eines Lebewesens auf gewaltsamen genitalen Kontakt unter Mißachtung der Integrität des Opfers, während Wehrlosen Schmerzen zugefügt und Kinder zum Lustobjekt abgewertet und in der Öffentlichkeit des Internets zur Schau gestellt werden. Die verkürzte Bezeichnung "Kinderpornografie" ist dabei äußerst unpassend. Jede unfreiwillige Bilderstellung ist verboten und verletzt ganz klar die Persönlichkeitsrechte.

Pädosexuelle Neigung

Die sexuelle Neigung kann sich niemand aussuchen. Das Ausleben der Neigungen sehr wohl - sie ist in unserem Kulturkreis verboten. Eine medikamentöse Behandlung hilft dabei nur partiell. Aber dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass Sachlichkeit/Forschung wichtiger wären, als emotionales Ausschlachten. Unmissverständlich gesagt: Unsere Kinder und Jugendlichen müssen unbedingt vor sexueller Mißhandlung geschützt werden. Dass Jugendliche mit ihresgleichen sexuelle Erfahrung suchen (dazu mitunter auch Bildmaterial herstellen & versenden), so dies einvernehmlich stattfindet, gilt nicht als pädosexuell. Es ist dies unter Jugendlichen sogar sehr verbreitet. Ebensowenig, wenn Kinder im Vorschulalter mit einander Doktorspiele machen. Aber Erwachsene, die sich Kindern sexuell nähern müssen sanktioniert werden und sich dafür vernantworten.

Vermuteter "Sittenverfall"

(*ironie on)

Wie schön, dass es aktuell in Niederösterreich eine Diskussion um "Normalitäten" gibt. Wir die Normalen, die anderen die ...Extremen? Oder Abnormalen? Oder Abnormen? Die Sittenwächter sind wieder aufgewacht. Bei so viel Ungeklärtem und gleichzeitig in Veränderung befindlichen Themen der Gesellschaft ist es wirklich beruhigend, dass wer auf uns schaut und uns den (rechten) Pfad der Tugend zurückführen möchte. Zu unserem Besten wohl.

(/ironie off*)

An dieser Stelle könnte ich ins "Archiv der Kindheitsgeschichten vieler KlientInnen" tauchen und auf einen Griff unsagbar grausame Geschichten von "Normalitäten", wie sie in gar nicht so wenigen Familien gelebt werden hervorholen. Beispiele von dieser Normalität gefällig?  Watschen, Erniedrigungen, Ausgrenzungen, Einsperren, Geschwister gegeneinander Ausspielen,Beschämen, Überfordern, Bedrohen, kalt abservieren oder strafweise nicht einmal ignorieren, mit Leistungsanforderung bereits im Volksschulalter terrorisieren, Verunsichern, Entwerten u.a.m.

Toleriert von der Nachbarschaft - und damit wird Gewalt stückweise zur Normalität. Praktiziert im Namen der "ordentlichen" Erziehung, gesittet entsprechend mancher Kirchenvertreter - und ganz besonders im ewig währenden "Kampf gegen Verweichlichung".

Anders ausgedrückt zur Abhärtung und zur vermeintlichen Vorbereitung auf's wahre Leben. Im Kampf um die Hoheit über Normen wird oft vorher ein Sittenverfall postuliert - in Wirklichkeit geht es darum, Lebendigkeit zu disziplinieren um die eigene unreflektierte Angst vor Emotionalität in Zaum zu halten. Ein ebenfalls großes gesellschaftliches Thema zu dem es sehr viel mehr zu schreiben gäbe. Ganze Generationen an Kindern und Jugendlichen sind von schwarzen Pädagogen (Dr. Schreber) und Pädagoginnen (siehe Johanna Harrer "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind") abgehärtet und zur "Normalität" gedrillt worden, sodaß Ihnen der Zugang zu Selbstwahrnehmung, Spüren ihres Körpers und noch viel mehr mit Strafen abtrainiert wurde. Noch drei Generationen später sitzen deren Kindeskinder in der Psychotherapie, weil Ihnen der Umgang mit Gefühlen belastend erscheint und Angst macht.

Sexuelle Identitäten

Sie sexuelle Identität ist ein wichtiges Persönlichkeitsrecht. So wie andere Teile der Identität entwickelt sie sich ebenfalls mit zunehmendem Alter. Und sie ist keineswegs von Anfang an klar definiert. Bei nahezu keinem von uns, auch wenn wir uns schwer daran erinnern können. Unsere Werte, die körperliche Gestalt, das eigene soziale Netz, das Interesse an bestimmter Bildung, Hobbies, Berufsneigung, ... etc. gehören wie die Sexualität zur Identität. Auch das eigene Bedürfnis nach bestimmten Beziehungsformen, ob in Partnerschaft oder anders. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Eltern ihren Kindern bei der Suche und Gestaltung der Identität(en) behilflich sind. Insbesondere auch dadurch, dass sie an ihrer eigenen Identität arbeiten, sie weiterentwickeln oder auch hinterfragen wo dies nötig ist. Identität ist ein Thema, das lebenslang entwickelt wird und somit "im Fluß" befindlich. Das bedeutet nun nicht, beliebig und unverbindlich zu sein. Aber offen für Impulse, die aus dem eigenen Inneren kommen. Der gute Umgang mit gesellschaftlichen Normen, also den Anforderungen von außen gehört dazu. Wenn ich als Kind in einem Klima der Ermutigung aufwachsen konnte, dass meine eigenen inneren Impulse sein dürfen und maßgebend sind, gelingt die Identitätsentwicklung leichter. Und ich muß niemanden dafür hassen/abwerten/ausgrenzen, der anders empfindet.

Gendern

Das gehört auch in den Themenkreis der aktuell diskutierten Gesellschaftsthemen. Dabei frage ich mich nur, was daran so irritierend sein kann, wenn Menschen gleich welchen Geschlechts sprachlich gesehen mit eingeschlossen sein wollen. Sie wollen mit dabei sein und nicht ausgeschlossen.

Angenommen Sie sitzen beim Heurigen, die Plätze neben Ihnen sind frei und jemand  will sich dazusetzen. Wie lautet Ihre Antwort auf deren Frage: Ja gerne, willkommen? Oder: Nein, weil mir san mir - gehn's wo anders hin?

Dazugehören gehört doch zu unseren menschlichen Grundbedürfnissen. Jedes Kind will von klein auf dazugehören, das ist uns angeboren. Über eine kreative sprachliche Form ob mit * oder :: oder Binnen-i oder anders läßt sich diskutieren. Was ist das Bedrohliche am Miteinander? Wem ist gedient mit einem abgeschotteten Sich-Zusammenschließen um den Preis, dass wer anderer ausgeschlossen wird?

 

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer,

Martin Geiger, Psychotherapeut